Zurück zu Texts

Shape of Memories

Eröffnungsrede Anna Wondrak, 18.10.2017, foryouandyourcustomers, München

Unser Bewusstsein arbeitet assoziativ. Das heißt, es verknüpft verschiedene Gedächtnisinhalte bzw. bestimmte Eigenschaften von Dingen so miteinander, dass uns beim Blick auf eine Eigenschaft sofort eine andere in den Sinn kommt. Unser Gedächtnis verbindet zum Beispiel den Anblick einer Rose mit dem Duft einer Rose. Durch die uns umgebenden Normen und unsere Kultur lernen wir, dass Dinge eine bestimmte Form, Farbe oder eben einen bestimmten Geruch haben. Wir sind auf eine gewisse Art und Weise geschult, Dinge wahrzunehmen, auch wenn natürlich jeder von uns Sinneseindrücke auf eine andere Art und Weise verarbeitet und einen anderen Blick auf die Welt hat. Dieser Blick, unsere (oft eingefahrene) Wahrnehmung im Allgemeinen, wird in den Arbeiten des Künstlers Bodo Korsig gehörig auf die Probe gestellt.

Bodo Korsig hat im Berlin der DDR an der Fachschule für Werbung und Gestaltung Bildhauerei und Steinrestaurierung studiert, aber schon damals begonnen, sich medienübergreifend mit verschiedenen künstlerischen Fragestellungen auseinander zu setzen. Sein Werk umfasst Zeichnung, Malerei, Skulptur, Fotografie, Video und Installation. Erste Bekanntheit erlangte er vor über 20 Jahren mit überdimensional großen Holzschnitten, die er aufgrund des Formates mit einer Straßenwalze druckte. Als Arbeitsschwerpunkte haben sich im Lauf der Zeit das Hinterfragen menschlicher Verhaltensmuster unter Extrembedingungen sowie das Thema Erinnerung herauskristallisiert. Hier in der Ausstellung sehen Sie Metall- und Papierobjekte, Zeichnungen, Drucke und Malerei primär aus den letzten 15 Jahren. Eines fällt sofort ins Auge und hat einen hohen Wiedererkennungswert: alle Werke zeichnen sich durch eine ebenso prägnante wie reduzierte Formensprache aus. In all ihrer Schlichtheit sind sie aber inhaltlich und formal vielschichtig und vieldeutig.

Hier im Eingangsbereich sehen Sie drei Werke, deren Form aus verdichtetem Papier entsteht, das mit Pigmenten eingefärbt ist. Ein Stück von der Wand abgerückt manipulieren sie unsere Sehweise, vermitteln sie eine gewisse Leichtigkeit und scheinen zu schweben – die fluoreszierende Farbe auf der Rückseite verstärkt diesen Eindruck.

Farbe und Form werden von unserem Gehirn unabhängig voneinander verarbeitet. Erst innerhalb des Wahrnehmungsprozesses werden sie zu einer Einheit verknüpft. Das Zusammenspiel beider Faktoren ist für das Endergebnis entscheidend. Farbe: Hier an der Wand sticht einem das kräftige Signalrot sofort ins Auge. Form: Einen Bruchteil später fangen wir unbewusst an, die Form zu analysieren. Generell scheinen die Formen der allermeisten Werke vertraut zu sein, lassen sich aber nicht benennen und bleiben rätselhaft. Ist das ein Stern? Eine Zelle, irgendetwas organisches? Ein Molekül? Und hier sind wir wieder bei der Assoziation – automatisch durchforsten wir unser Gedächtnis nach etwas Bekanntem – denn nichts liebt das Gehirn mehr als Routine und Vertrautes und unser Bewusstsein ist stets bemüht, etwas unklares in ein klares Bild zu übersetzen.

Unser Denkapparat übt eine große Faszination auf Bodo Korsig aus. Seit knapp 20 Jahren setzt er sich intensiv auch mit der Tatsache auseinander, dass es in unserem Bewusstsein in Extremsituationen zu verblüffenden Wahrnehmungsverschiebungen kommen kann. Ihn beschäftigen Fragen wie: Was passiert unter bestimmten Bedingungen mit unserem Gehirn?
Wie funktioniert unsere Wahrnehmung? Was passiert, wenn unser Gehirn der Informationsflut nicht mehr Herr wird, wenn eine Sicherung durchbrennt, wenn nicht mehr alles verarbeitet werden kann? Wie gehen wir mit Erinnerung um, wie mit alten Ängsten?
Bodo Korsig spielt mit diesen Fragen, er spielt mit unserem Gehirn. Nimmt vertraute Formen, bereits existierende Dinge, verfremdet und abstrahiert sie. Doch nicht nur die Form verwirrt den Betrachter, indem sie etwas zu sein scheint, was sie auf den 2. Blick gar nicht ist. Auch in der Technik kann man sich täuschen, denn Bodo Korsig testet die Grenzen des Materials aus und hinterfragt sie: So kann z.B. das, was man als Holz zu erkennen glaubt, sich bei genauerer Betrachtung als Keramikarbeit entpuppen. Überall in den Räumen hier finden sich weitere Werke aus den Serien „hidden minds“ und „Metamorphosen“, Formen, im Prozess der Wandlung begriffen, die sowohl als lineare Zeichnungen im Raum als auch als skulpturales Objekt funktionieren. Auch hier ist das Material auf den ersten Blick nicht einordenbar. Viele Arbeiten sind schwarz, was eine volle Konzentration auf die Form ermöglicht. Spielerisch abstrahiert Bodo Korsig hier Dinge aus der Vergangenheit.
Auch in den Lithographien entfaltet sich über einem bewegten Hintergrund in schwarzen Linien das uns nun bereits bekannte Formenvokabular.

Generell ist jedes einzelne von Bodo Korsig verwendete Zeichen für sich lesbar, und ist gleichzeitig Teil eines großen Systems an Zeichen, die sich wiederholen, abwandeln und in anderen Medien wieder auftauchen können. Überall begegnen uns organische anmutende Formen, amorphe Wucherungen, die ihre weichen Tentakeln nach ihren Nachbarn auszustrecken scheinen, umgeben von natürlich gewachsenen Fragmenten, Hirn, Zellen, Zellklumpen, DNA-ähnlichen Ketten und molekular wirkenden Geflechten. Auch im Gang finden Sie drei Drucke, in denen die Motive von Zellstrukturen oder Puzzleteilen erneut auftauchen. Worte wie „Next“, „Move On“ oder „Feed your soul“ sind neben den Motiven auf das Büttenpapier geschrieben. Dies sind nicht nur Titel, sondern sie sprechen den Betrachter direkt und auffordernd an. „Present and Past“ heißt eine andere Arbeit und verweist wieder auf das Thema Erinnerung. Überhaupt kommt immer wieder Schrift und Sprache als künstlerisches Mittel zum Einsatz. Davon zeugen auch über 30 Künstlerbücher, die Bodo Korsig in Kooperation mit verschiedenen Schriftstellern realisiert hat. Sie sind nicht Teil der Ausstellung, aber auf der Webseite des Künstlers kann man sich sehr anschaulich durch die einzelnen Buchprojekte durchblättern.

Die Kunstwerke von Bodo Korsig bieten uns eine Projektionsfläche, eine Form, die unser Unterbewusstsein und Bildgedächtnis anspricht und mit der wir unmittelbar und intuitiv interagieren können. Dieselbe Direktheit vermittelten bereits frühe Höhlenmalereien, die Bodo Korsig als eine wichtige Inspirationsquelle benennt. „Shape of Memories“ heißt die Ausstellung. Unsere Vergangenheit, unsere Erinnerung, das was uns zu den Menschen geformt hat die wir sind, hat viele Gesichter und Facetten. Bodo Korsig hinterfragt Wahrnehmungskonventionen und verwirrt den Betrachter gerne in seinen gewohnten Strukturen. Seine künstlerischen Ausformulierungen zeigen eine Verletzbarkeit, die weit unter die Oberfläche geht. Man könnte sie auch in Bezug mit einer inneren Auflösung bringen, einer Zusammenführung von äußeren und inneren Bildern. Bodo Korsig hat einmal gesagt „Die Form ist der Spielraum des Betrachters.“ Es liegt also alles in unserer Hand, die Dinge auch mal anders zu betrachten. Im besten Fall fühlen wir uns aufgefordert, über die Fragilität unseres Selbst zu reflektieren. Also schauen Sie unter die schöne Oberfläche – der Objekte, aber auch bei Ihnen selbst.