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Eine Invasion gemalter Imperative

SZ AM WOCHENENDE  Samstag, 12. Mai 2001
GerhardWaldherr
Von einem, der auszog, das Innenleben zu erforschen: Der deutsche Künstler Bodo Korsig in New York

Bodo Korsigs Bilder sind auf den ersten Blick schlichte Kompositionen. Sie könnten naiv erscheinen, kindlich, beiläufig hingeworfen, würden sie einen nicht auf mysteriöse Weise gefangen nehmen. Nach und nach verdichten sich die scheinbar arglosen Linien, Kreise und Kleckse im Kopf des Betrachters zu monströsen Gebilden und entwickeln ein irritierendes Eigenleben. Bis man glaubt, Tentakeln von Meeresgetier, Fühler von Insekten und amöbengleiche Organismen zu erkennen, Pflanzenkeime, DNA- Strukturen oder Blutkörperchen unter einem Mikroskop.

Diese Erfahrung kommt einem zugute, wenn man dem Künstler persönlich begegnet. Korsigs robuste Erscheinung, der kahl rasierte Schädel zwischen den breiten Schultern, die athletische Gestalt, sind auch trügerisch. Denn im Gespräch wird schnell deutlich, dass sich dahinter eine Welt feinfühliger Gedanken verbirgt, die einem auch ein wenig unheimlich werden kann. Korsig, der in Berlin Steinrestaurierung studiert hat, erzählt, dass er schon immer wissen wollte, was mit Gehirnzellen in Stresszustand und unter Hypnose passiere, und Cerebrum, das menschliche Schaltzentrum, nennt er schlicht „ein gefährliches, unkontrollierbares Tier“.

Bodo Korsig, 39, in Zwickau geboren, zwischen Trier und New York pendelnd, besitzt eine umfangreiche Sammlung psychologischer Fachbücher, er beschäftigt sich mit unserem Unterbewusstsein, und Todesangst fasziniert ihn so nachhaltig, dass man mit ihm stundenlang über Hinrichtungen philosophieren kann. Und natürlich weiß er, dass es Substanzen gibt, wie Nikotin, Morphium, Chinin oder Heroin, die, wenn sie das Gehirn erreichen, dort agieren wie Neurotransmitter. Die Signale, die sie zwischen Nervenzellen weitergeben, verändern den Gemütszustand des Menschen. Es ist nicht überraschend, dass Korsigs Arbeiten ähnlich wirken.

Das Innenleben als geheimnisvoller Kosmos. Nicht nur für Künstler ist dieses Sujet schon immer unwiderstehlich gewesen. Und als Beleg hierfür mag die weltweite Resonanz gelten, die Korsigs Schaffen in den letzten Jahren erzeugte. 2000 waren seine Arbeiten in verschiedenen Museen zu sehen, gerade kommt er von einem Arbeitsaufenthalt in Neuseeland zurück, und demnächst wird sein neues Buch, eine Sammlung von Holzschnitten zu Texten des Dichters John Ashbery, unter dem Titel „Closer“ erscheinen; die Los Angeles International Art Biennale steht als nächste Station an. Korsigs Name wird inzwischen in einem Atemzug mit Baselitz, Penck und Lüpertz genannt, wenn es um die Renaissance des deutschen Holzschnitts geht, einer Technik, mit der der Ostdeutsche schon frühzeitig Aufsehen erregt hat.

„Bodo hat sich“, sagt der New Yorker Jungstar unter den Galeristen, Leo König, „in relativ kurzer Zeit international einen Namen gemacht, seine eigene Handschrift entwickelt, ohne dabei Epigone zu sein.“ Korsig druckte monströse, 15 Quadratmeter große Exponate mit einer Straßenwalze, für den Künstler eine willkommene Methode auf der Suche nach der ultimativen Botschaft. „Ein Käfer, der fünfzigfach vergrößert dargestellt wird, erhält mehr Substanz: Das niedliche Insekt wird zum Monster.“ Korsig sagt: „Es geht mir bei allem, was ich tue, um die Symbolkraft.“

Das hat auch der New Yorker Kunsthändler Garner Tullis sofort erkannt. „Sehr ernst“, erinnert sich Tullis, „sehr tiefgründig, kompromisslos – das war mein erster Eindruck. Bodos Energie und Entschiedenheit kann einem Angst machen.“ Tullis ist in der New Yorker Kunstwelt eine Legende. Mit seinem Art Collaboration Project, das seit Jahrzehnten Künstlern Arbeitsmöglichkeiten, ein Netzwerk an Kontakten und fachkundigen Rat bietet, hat er Leuten wie Robert Ryman, Richard Diebenkorn, Sam Francis oder Katherine Lee zu Ruhm verholfen. Die Wände seines Studios im Manhattaner Viertel TriBeCa sind übersät mit Werken ehemaliger Protegés, darunter auch einigen von Korsig, die Tullis „gemalte Imperative“ nennt.

Es war im Sommer 1995, als Korsig bei Tullis in der Tür stand. Der Galerist wollte mit Ryman gerade zum Mittagessen, weshalb sie ihn kurzerhand einluden. Tullis bot Korsig spontan an, bei ihm zu arbeiten. Und nach wenigen Tagen wusste er, „dass wir es mit einem ungeheuerlichen Talent zu tun hatten, einer Figur, die so archaisch arbeitete wie ein Höhlenmaler und die wie Jackson Pollock instinktiv das Zusammenspiel von Materialien und Ideen verstand“. Dass Korsig, der anfangs nur zehn Tage in New York bleiben wollte, nach sechs Jahren immer noch in der Stadt ist, hängt aber nicht nur mit der Art Collaboration zusammen. Mag schon sein, dass New York eine ähnliche Symbolkraft liefert wie die, die Korsig anstrebt, und dass sich hinter seinem Betongebirge ähnlich bizarre Prozesse abspielen wie jene im menschlichen Organismus. In Deutschland, sagt Korsig, fühle er sich immer wie im Spielzeugeisenbahnland, „alles ist überschaubar.“ In New York, sagt er, flögen die Neurotransmitter des täglichen Lebens schneller, wirkten sie „direkter, brutaler“.

Man muss Korsig in New York erleben, um zu verstehen, woher er die Anregungen für sein Formenvokabular nimmt. Er steht in der Bar des World Trade Center, mehr als 100 Stockwerke hoch, und skizziert die Umrisse von Wolkenkratzern im Lichterwirrwarr auf seinem Palm Pilot. Er spaziert am Hudson River entlang und betrachtet die Holzstümpfe der verfaulten Docks, an denen früher Luxusdampfer anlegten. Bei einem Spaziergang durch Downtown deutet er auf Risse im Asphalt, verworrene Stromleitungen, bizarre Trafokästen. „Mit Bodo durch die Straßen zu streifen, ist wie eine Schule des Sehens“, schrieb der Kunstkritiker Robert Saltonstall Mattison. Korsig sagt: „Für mich ist das alles Gehirnnahrung, Stoff für meine Auseinandersetzung mit Gefühlen, Gedanken, Fragen.“

Mit Informationen zu seiner Person ist Korsig zurückhaltend, von ein paar allgemeinen Feststellungen abgesehen („Ich habe schon sehr früh gewusst, dass ich mich ausdrücken wollte, ohne dabei laut zu sein“). Über seine Kindheit und Jugend in der DDR spricht er nur ungern. „Es gibt schon zu viele, die auf dieser Ostschiene herumreiten und dann nicht mehr runterkommen.“ Was, fragt er, solle er schon erzählen: „Dass Zwickau Bergbau und Trabant war, SED und Stasi-Scheiße? Ich schaue lieber nach vorne als nach hinten.“ Selbst Tullis, mit dem Korsig nächtelang am Küchentisch diskutiert hat, weiß nur irgendwas von einem Gefängnisaufenthalt und diversen Schwierigkeiten.

Korsigs Vergangenheitsbewältigung kommt eher in stummen Gesten. Er sagt, er wolle nicht belehren, er sei kein „Missionar oder Don Quichotte, und Künstler haben leider keine ähnlich große Bühne wie Rockstars“. Wobei Melodien für Millionen bei ihm auch nicht zu erwarten wären. Korsig spricht lieber von Ahnungen, Empfindungen, Mysterien. Er mag die sphärischen Gemälde von Mark Rothko, aber auch indianische Höhlenzeichnungen. Seine Bilder und Ausstellungen tragen Titel wie „Who am I when I’m sleeping“ oder „Du verwirrst mich“ oder „Where can I buy a new Brain?“, sie entstehen häufig in Zusammenarbeit mit Dichtern, deren Gedanken Korsigs Bilder ergänzen, aber auch gleichzeitig interpretieren.

Der Sprung von Zwickau über Trier nach Amerika, hat Korsig mal gesagt, fühle sich an „wie eine Geschlechtsumwandlung“. Seine Kunst hat in dieser Zeit auch eine, wenngleich nicht ganz so dramatische Transformation erfahren. Früher dominierten in seinem Œuvre spitze, kantige, aggressiv wirkende Formen. Inzwischen drückt er sich weicher, wärmer, versöhnlicher aus. Korsig meint, er genieße es immer wieder, in die Metropole einzutauchen. Aber warum dann immer wieder Trier? Korsig: „Ich brauche Abgeschiedenheit, Ruhe, um mich zu sammeln und ausdrücken zu können, insofern ist Deutschland schon noch wichtig.“

Es ist Frühling in New York. Korsig schlendert durch TriBeCa, fotografiert Regenwasser, das sich von einer Pfütze aus über den Gehsteig verteilt. Später sitzt er in einem Straßencafé und versucht zu erklären, was er darin erkennt: „Es gibt auch in unserem Leben völlig offene, verrückte, unberechenbare Wege, wir haben Millionen Möglichkeiten.“ Und schon landet er wieder bei Gentechnologie, Gemütswelten und Spekulationen über Zirbeldrüse und Stammganglien. 1999 hat Korsig seine bei Tullis entstandenen enkaustischen Bilder unter dem Titel „Fate“ in TriBeCa ausgestellt. Fate heißt Schicksal. Nach der Vernissage ging Korsig zu einer Party. Während er auf der Toilette war, stürzte ein Regal mit Büchern und Computern, neben dem er eine Minute zuvor noch gestanden hatte, ein und begrub vier Gäste. „Warum hat es mich nicht erwischt?“ Dass er selbst in den tiefsten Windungen seines Cerebrums bis heute keine Antwort darauf gefunden hat, muss nicht weiter schlimm sein. Tullis meint: „Kunst ist ein Weg, an einen Ort zu gelangen, an den man anders nicht kommen würde.“

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Bildunterschrift:

„Für mich ist alles Gehirnnahrung“: Bodo Korsig Foto: David Glackin