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Transit der Bilder

Gehirn, das – Vorrichtung, mit der wir denken, wir dächten.

Ambrose Bierce, Des Teufels Wörterbuch

Das spiegelnde Bild eines Gehirns, oder besser: des Schnitts durch ein Gehirn, in poliertem Chromstahl… Wir sind gewohnt, unser Hirn als ein Organ zu betrachten, mit dem wir die Welt wahrnehmen, strukturieren und – in jeder Hinsicht – beherrschen. In der traditionellen Vorstellung vom Verhältnis zwischen Mensch und Außenwelt gab es eine eindeutige Scheidung von Subjekt und Objekt. Doch das Gehirn ist nicht nur ein Instrument zur Erkenntnis (unter die auch die Selbsterkenntnis als rationalisierte Beschäftigung des Menschen mit sich fällt), sondern auch zur Selbstbespiegelung. Schon Descartes‘ bis zum Überdruss genutztes und abgenutztes Dictum „Cogito, ergo sum“ hat einen narzisstischen Einschlag. Das Gehirn beschäftigt sich in weit umfangreicherem Maße mit sich selbst als mit der Verarbeitung von außen herangetragener Impulse; und vom Denkenden beherrschen lässt es sich in sehr viel geringerem Maße, als wir uns das vorstellen und wünschen. Es lässt sich nicht in dem Umfang steuern, wie wir das möchten – weder in der Wahrnehmung noch im Speichern des Wahrgenommenen. Georg Friedrich Wilhelm Hegel verglich das Gehirn deshalb auch mit dem Wasser, in das keine Bilder geschlagen werden können. Der 2005 verstorbene Hirnforscher Detlef B. Linke, der sich in zahlreichen Publikationen mit der künstlerischen Kreativität und dem kreativen Gehirn beschäftigt hat, ging sogar noch weiter und meinte: „Wahrnehmung erfolgt nicht auf eine statische Fotoplatte, sondern eher auf so etwas wie eine Brandung.“1 Das Bild der Brandung, eigentlich nur als Metapher für die „Schwingungsnatur“ von Wahrnehmungsprozessen im Sinne Daniel J. Amits gemeint2, impliziert sogar die Vorstellung, dass eigentlich überhaupt nichts klar rezipiert werden könne.

Bodo Korsigs „Don’t follow me“ (2010) ist als Reflektor im Verhältnis zu einer Brandung ein „stilles Wasser“. Der Chromstahl wirft den Blick des Betrachters zurück, spiegelt diesen und einen Teil der Umgebung, hält aber von diesen Bildern nichts fest. Wir werden für einen Moment Teil eines Bildes, doch wenn wir uns fort bewegen, ist dieses Gehirn wieder mit sich allein. Damit weist Korsig auf den transitorischen Charakter aller, auch der für gewiss gehaltenen Erscheinungen der Welt hin. Der Betrachter erlebt sich als Teil, Gegenstand und Eigner eines Gehirns, das deshalb im Moment der Betrachtung seins wird, weil er an ihm partizipiert und vice versa. Das Bild wird zum Körper-Teil des Beschauers, dieser zum Element eines Bildes, das einen Teil seines eigenen Körpers darstellt – und zwar nicht irgendeinen Teil, sondern just jenes Organ, das diese Verschmelzung bewirkt, beobachtet, verarbeitet und wieder auflöst. Der Werktitel „Don’t follow me“ kann daher nach mehreren Richtungen gedeutet werden: Die beiden konstituierenden Elemente des Bildes „gehen getrennte Wege“, sobald sich der Betrachter aus der Betrachtung löst, sobald ihn der Chromstahl nicht mehr widerspiegelt. Gleichzeitig erblickt der Betrachter hier im Bildkürzel sein eigenes und jedes Hirn; er wird aufgefordert, sich Rechenschaft darüber abzulegen, ob er fremden Gehirnen zu oft Gefolgschaft geleistet, ob er dem eigenen zu oft blind gefolgt ist.

Denn Spiegelung bedeutet auch womöglich Blendung, wenn die Reflexion gleißend das Auge trifft. Korsigs „Don’t follow me“ vermag damit die erwähnte Symbiose von Künstler, Werk und Betrachter noch insofern zu intensivieren, als es den Rezipienten in die von Jacques Derrida behauptete Blindheit des Künstlers bei seiner Tätigkeit einbezieht.3 Der Künstler muss „ein Bild vor Augen haben, (darf) sich also nicht auf die Wahrnehmung der Außenwelt konzentrieren.“4

Dieser Aspekt verbindet Korsigs Bildwelt mit derjenigen Hans Arps, aber noch zwei weitere. Zum Einen finden wir hier wie dort organische Formen, die weniger wie gemacht als wie gewachsen wirken. Das oben angesprochene Werden und Vergehen des Bildes in der Zusammenführung und Trennung von Werk und Betrachter bei Korsig bildet dabei das Analogon von Arps „Croissance“. Zum Anderen bedienen sich der Straßburger wie der Zwickauer jeweils eines Repertoires von elaborierten Formen und Motiven, die dem Betrachter in immer neuen Konstellationen und Kontexten präsentiert werden und so im Laufe der Zeit zahlreiche „Zwiebelschalen“ von Bedeutungen ansetzen.

Ernest W. Uthemann


1 Detlef B. Linke, Kunst und Gehirn. Die Eroberung des Unsichtbaren, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 16
2Vgl. Daniel J. Amit, The Hebbian paradigm reintegrated, in: Behavioral and Brain Sciences 18 (1995), S. 617 – 657
3 Vgl. Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, München 2008, passim
4 Linke, a. a. O., S. 99