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escape

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wie Sie wissen, geht es hier und heute um zeitgenössische und um explizit aktuelle Kunst und es ist gut so, dass wir sie wieder sehen können. Alte Kunst, junge Kunst, Weltkunst hört sich alles so unterschiedlich an und ist im Grunde doch eins. Kunst eben. Doch was ist Kunst? Gute Frage und erfahrungsgemäß viele Antworten. Fragen wir uns doch eingangs einfach, was Kunst überhaupt leistet. Sie leistet natürlich viel Unterschiedliches, aber ich will drei zentrale Punkte herausgreifen und deutlich machen. Grundsätzliches, das uns auch und gerade im Verständnis der Arbeiten Bodo Korsigs weiterhelfen kann.

Voraussetzung aller Kunst und alles anderen ist die Idee. In der griechischen Antike bedeutete das Wort Idea, auf das unser heutiges Wort zurückgeht, ein Urbild, beziehungsweise ein Erscheinungsbild von etwas, das gesehen wird. Für die platonische Ideenlehre sind Ideen geistig erfassbare Urbilder, die den sinnlich erfassbaren Phänomenen zugrunde liegen. Bei Platon sind die Ideen das Schöne an sich und im Gegensatz zu den Sinnesobjekten sind nur die Ideen vollkommen. Die Idee ist also der Gedanke nach dem man handelt, hier der gedankliche Entwurf zu einem Kunstwerk.

Nun ein Punkt im verwirklichten Kunstwerk, der uns im Verständnis desselben weiterhelfen kann: Es geht um den Ausdruck von Emotion und man kann folglich sagen: Die Kunst beurteilt eine Emotion an und für sich. Das ist ganz entscheidend und wir sollten den Versuch aufgeben, ein Kunstwerk nach seinen Rückwirkungen auf das Leben zu beurteilen. Betrachten wir derart das Emotionale, so wird klar, dass Kunst Ausdruck des imaginativen Lebens ist.

Ich verwende den Begriff des Imaginären hier natürlich nicht im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs, in dem „imaginär“ als etwas Unwirkliches, etwas Scheinbares verstanden wird. Wir konnotieren hier den Begriff nicht negativ, sondern verbinden ihn mit dem neutralen Wort „imago“. Die imaginäre, also die bildhafte Emotion wird damit dual organisiert und lässt somit eine Spiegelung ästhetischer Erkenntnisse zu, beziehungsweise ermöglicht diese erst. Und weiter gibt uns das imaginative Leben einen Schlüssel zur Selbstidentifikation, zum Selbstbild, aber natürlich auch zur Täuschung.

Neben dem Ausdruck der Emotion ist genauso grundlegend die Vorstellung von der Aura des Kunstwerks. Denn natürlich verweist der Begriff der Aura, des Auratischen auch auf den Kern der Kunstwerke von Bodo Korsig. Dieser zutiefst humanistisch geprägte Begriff umschreibt in einer Formulierung Paul Valérys das Sehen, das vom Anderen herkommt. Im ästhetischen Bezug ist die Aura damit an die Anwesenheit des Betrachters gebunden, der sich einfindet in die besondere Ausstrahlung und Anziehungskraft des Werkes, auf das er in der Begegnung reagiert. Für Walther Benjamin hing die Aura auch mit dem Wachträumen zusammen, Ernst Bloch nannte dasselbe Phänomen mit utopischem Impetus Träumen vorwärts.

Wir können in einem weiteren Schritt mit Martin Heidegger fragen:
Was geschieht hier? Was ist im Werk am Werk? Er hat es in seinem Essay Vom Ursprung des Kunstwerks am Beispiel eines Bildes von van Gogh, dem bekannten Stilleben mit den Bauernschuhen, erklärt. Heidegger schrieb:

Van Goghs Ge­mälde ist die Eröffnung dessen, was das Zeug, das Paar Bauern-schuhe, in Wahrheit ist. Wir sagen Wahrheit und denken wenig genug bei diesem Wort. Im Werk ist, wenn da eine Eröffnung des Seins geschieht, in dem was und wie es ist, ein Geschehen der Wahrheit am Werk.

Emotion und Wahrheit sind also wohl die Schlüsselbegriffe der Annäherung, und sie sind ungeheuer wichtig, will man die Komplexität heutiger Bildfindungen verstehen, und für sich selbst nutzbar machen. Kunst ist ja nicht Selbstzweck, sie ist uns nützlich im Grundsätzlichen. Und besonders nützlich ist natürlich das zeitgenössische, die Kunst unserer Zeit, die innovativ ist, und gleichzeitig die Dinge spiegelt, die uns bewegen. Und so ist es mit den Arbeiten von Bodo Korsig: sie spiegeln die Emotionen, die uns bewegen, sie sind durchdrungen davon.

Seit rund zwanzig Jahren ist das werkbestimmende Thema in Bodo Korsigs Schaffen die Auseinandersetzung mit den Wegen und Bedingungen des Denkens und Fühlens. Vom sogenannten Bauchgefühl einmal abgesehen, gilt dabei seine Konzentration der Tätigkeit des menschlichen Gehirns, das er als Querschnitt, stark abstrahiert oder als Zellform von Neuronen visualisiert. Korsig interessieren die Grenzzustände des Hirns, die neurologischen Prozesse als Reaktion auf existentielle Extrembedingungen wie Angst oder Gewalt.
Ein Grundzug in Bodo Korsigs Schaffen ist dabei die Dekonstruktion von Motiven, Themen und Dingen zu Symbolen, zu einer abstrahierten Formenwelt: Diese Icons sind direkt und ohne Umwege ansprechend. Allerdings dürfen wir uns vom vordergründigen Zeichenwert seiner Objekte nicht beirren lassen. Sie sind nur der leicht zugängliche Einstieg in seine Kunst, alles Weitere ergibt sich.

Natürlich sind seine Bildsymbole nicht seine eigenen Bilder, es sind unser aller Bilder, und deshalb reagieren auch alle Betrachter auf dieses eigene imago. Das ist das offene Geheimnis der Bilder und Skulpturen Korsigs: wir begegnen unseren ungedachten, verdrängten Erinnerungen und das lässt uns nur schwer wieder los. Denn Korsigs Icons sind zweifellos Auslöser von Erinnerung, sie stoßen einen neurologischen Prozess an: Nach der Initialisierung des Erkennens läuft ein visueller scan der Gedächtnisinhalte ab, der eben nicht nur objektive Treffer liefert, sondern tiefe Erinnerungsschichten aufreißt, begehbar macht und damit enorme Emotionen wecken kann.

Der Ausdruck von Emotion hat eine kongruente Schnittmenge mit künstlerischem Gestalten, denn Kunst ist immer auch Ausdruck von Emotion und man kann folglich sagen, dass die Kunst eine Emotion an und für sich beurteilt. Und genau hier ist der Ansatzpunkt Bodo Korsigs – hier zeigt sich die dialektische Beziehung von Kunst und Leben, die er grundsätzlich in allen seinen Arbeiten thematisiert.

Seit einigen Jahren, genauer seit 2015 liegt der Fokus der Arbeit Korsigs auf dreidimensionalen Filzarbeiten, die er als neue Werkgruppe in dieser Ausstellung präsentiert. Er bedient sich in diesen Arbeiten eines für ihn neuen Materials, Filz, genauer gesagt handelt es sich um Industriefilz in 5 mm Stärke. Filz ist, was manchen erstaunen mag, eine Textilie, ein textiles Flächengebilde aus einem ungeordneten, nur schwer zu trennenden Fasergut. Filz lässt sich leicht zuschneiden und in jeder Richtung verarbeiten. Die Schnittkanten muss man nicht versäubern, da Filz nicht gewebt, sondern gepresst ist und deshalb nicht ausfranst. Sie kennen natürlich Filzstifte und Ihre Schachfiguren stehen wie meine auf weichem Filz, um die Ruhe zu bewahren. Und ich hoffe, Sie sind hier nicht gefilzt worden, nach der Schutzmaske vielleicht.
Filz ist ein völlig unterschätztes Material, ähnlich wie Linoleum durch Schulunterricht und Bastelkurse für den künstlerischen Ausdruck zunächst verunklärt. Mit wenigen Ausnahmen. Deren berühmteste ist zweifellos Joseph Beuys, der allerdings im – Gegensatz zu Korsig – Filz im Grunde als Readymade eingesetzt hat oder ihn konzeptionell bearbeiten ließ: Den legendären Filzanzug lieferte ein Münchner Schneider. Beide verwenden für ihre Intentionen und Aussagen jedoch die sprichwörtlichen Eigenschaften des Materials: Bei Beuys ist die lebenserhaltende Wärme Teil des Mythos und der Biographie. Bei Korsig wichtig ist das Sprachbild für die Bedeutung Filz im übertragenen Sinne, entstanden durch die kaum trennbaren Filzfasern. Darunter wird verstanden, dass eine Gruppe von Personen durch Abhängigkeiten in einer undurchschaubaren und vielfältigen Weise verknüpft ist. Dieses Sprachbild ist natürlich auch auf Korsigs Arbeiten übertragbar – alles hängt zusammen und niemand weiß, wie die Gefühle und Emotionen schon bald reagieren und was das für uns bedeuten kann.

Korsig ist durch die Verwendung von Filz natürlich nicht zum Textilkünstler geworden, er zeigt sich einfach wandelbar im Zugriff auf das Material und findet genau den Stoff, der seinen Intentionen entspricht. Korsig ist nicht nur ein international renommierter Künstler, sondern auch ein Exponent der spezifisch deutschen Wiederbelebung des Originalholzschnitts ab den 1980er Jahren. Die damals junge Generation hat nach der Graphikschwemme der 60er und 70er Jahre den Holzschnitt zu repräsentativer Größe und zum Unikatcharakter geführt. Aus dieser Tradition im Werk Korsigs leitet sich das holzschnittartige der Cut-Outs in den Filzarbeiten ab. Der Weg dazu beginnt 1997 in New York mit einer Reihe von Schnitten in Dachpappe, die aus olfaktorischen Gründen aufgegeben werden. 2015 nimmt er die Idee dazu wieder auf, experimentiert zunächst während eines Aufenthalts auf Mallorca mit Vlies aus einem spanischen Baumarkt, findet aber bald darauf den schwarzen Filz, der Leichtigkeit und Farbtiefe vereint.
Die großformatigen, raumgreifenden, ja monumentalen Filzarbeiten verstehen sich als Reaktion bzw. Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen, die Menschen in extreme Situationen versetzen. Auch die gegenwärtige Ausnahmesituation greift Korsig auf diese Weise auf, die Formensprache seiner Werke weckt Assoziationen zur Mikrobiologie. Wie der Künstler betont, erinnern die abstrakten, organischen Strukturen an Zellteilchen, Mikroorganismen, aber auch an Erreger wie Viren und Bakterien, deren Darstellung nun in unserem Alltag dauerhaft präsent ist. Durch die Überdimensionierung der Arbeiten wird das Blickfeld des Betrachters von den organischen, nicht klar definierbaren Strukturen eingenommen und fordert unwillkürlich zur Auseinandersetzung mit Ängsten, Ungewissheit und Bedrohung auf. „Escape“, das jüngste Werk der Ausstellung und gleichzeitig deren Titel, fertiggestellt erst Ende April, zeigt klar den Bezug zur derzeitigen allgemeinen, gesellschaftlichen Situation und die künstlerische Reaktion auf diese Zeit. Es ist Korsigs Metapher für das Fenster nach draußen, für Befreiung, für Überwindung von Angst. Und natürlich geht es dabei nicht nur um Corona. Das Thema ist zeitlos.
Kunsthalle Trier 5.6.2020
Dr. Heinz Höfchen