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Saltosprünge der Synapsen

Eine Begegnung mit der Kunst von Bodo Korsig
Ralf Christofori

Am Anfang war bekanntlich das Wort, im Falle von Bodo Korsigs Ausstellung in der Kunsthalle Trier ist es ein Imperativ. Kein kategorischer, zumal man nicht wirklich sicher ist, ob man sich von ihm in kantischer Manier wirklich wünscht, dass er ein allgemeines Gesetz werde. Über dem Eingang zur Kunsthalle leuchtet dieser Imperativ, der also weniger gesetzmäßige als vielmehr teuflische Züge trägt: „Es leben die Verrückten“, steht dort oben. Man schreitet darunter hindurch und gehört schon dazu. Zumindest kann man sich drinnen dem Ganzen nur schwer entziehen.
In der großen Halle hat Bodo Korsig eine Installation realisiert, die die Betrachter ganz unmittelbar einbezieht und auch ein Stück weit vereinnahmt. Von der Decke hängen Ornamente, Icons und Schriftzüge, teilweise über Kopfhöhe, manchmal knapp über dem Boden. Formal und auf den ersten Blick erscheinen sie äußerst leichtfüßig, inhaltlich subtil, poetisch, bisweilen bedrohlich. Die Formen sind so abstrakt wie möglich und so figurativ wie nötig, um eine größtmögliche Offenheit ihrer Deutung zu erhalten. Wir begegnen ihnen, nähern uns an, gehen an ihnen vorüber; sie drehen sich mit, schauen uns nach, freundlich, aber bestimmt. Ein monumentales Mobile ist das, und je länger man sich darin aufhält, desto mehr scheinen uns die mobilen Zeichen zu verfolgen: das possierliche Tierchen etwa, das da an seinen langen Armen hängt und uns durch zwei leere Augen anstarrt; der Schnuller, dessen Mundteil mit Noppen bestückt ist, die man eher aus der Welt der Erotik kennt; Puzzleteile schweben neben haarigen Pantoffeltierchen, man meint Nanostrukturen und Kometen erkennen zu können, florale Fruchtstempel, neuronale Synapsen und Gehirnwindungen.
Überhaupt das Gehirn: Es taucht in Bodo Korsigs Bildwelten immer weder auf, und das hat seinen Grund. Denn es ist jene menschliche Instanz, in der Verstand und Vernunft, emotio und ratio, das Denken und die Gefühlswelt ins Gleichgewicht und sozusagen auf Linie gebracht werden. Im Gehirn wird all das, was wir wahrnehmen, verarbeitet. Hier werden unsere Bilder vom Kopf auf die Füße gestellt, wird Bekanntes wiedererkannt und sozusagen der Einzelne in der Welt zur Ordnung gerufen. Unser Zugang zur „äußeren“ Wirklichkeit verdankt sich also maßgeblich einer mentalen Konstruktion, die bildhafte oder sprachliche Informationen mit bereits gemachten Erfahrungen abgleicht, sie im Rahmen dieser mentalen Prozesse strukturiert, wiedererkennt und – im besten Fall – versteht. Die kognitive Linguistik spricht in diesem Zusammenhang von Idealized Cognitive Models (ICM), die nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Perzeption organisieren. Diese Modelle verkörpern keine objektive Semantik, sondern eine idealisierte konzeptuelle Struktur, die George Lakoff zufolge nicht mehr und nicht weniger liefert, als einen „conventionalized way of comprehending experience in an oversimplified manner“.
Das klingt plausibel und durchaus hilfreich, wenn wir uns vor Augen halten, dass wir die Komplexität all jener intellektuellen oder sinnlichen Reize, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind, per se überhaupt nicht erfassen können. Andererseits ist diese Tendenz zur „Konventionalisierung“ und „Übersimplifizierung“, von der Lakoff spricht, durchaus auch gespenstisch. Die Vorstellung, unsere Welt im Kopf sei schablonenhaft organisiert und geordnet, lässt jedenfalls Schlimmstes befürchten: Denn ist es nicht so, dass jede Ordnung ihren eigenen Regeln und Gesetzen folgt – ganz gleich, ob sie wirtschaftlich, politisch oder wissenschaftlich motiviert ist, von universalem oder eher kleingeistigem Interesse? Und ist es nicht so, dass unsere Welt im Kopf maßgeblich von jenen wirtschaftlichen, politischen oder wissenschaftlichen Ordnungssystemen geprägt wird, die ihre eigene Ordnung machtvoll durchsetzen und verteidigen, um alles andere auszuschließen oder zu sanktionieren? Oder anders gefragt: Ist unsere Ordnung im Kopf also überhaupt noch selbst- oder nicht zunehmend fremdbestimmt? Und wo bleibt da noch Platz für das Verrückte?
Seit etwa zwanzig Jahren geht Bodo Korsig in seinen plastischen Arbeiten, Malereien und Videoarbeiten solchen Fragen nach. Von konventionellen oder simplifizierten Botschaften hält er nicht viel. Zumindest begegnet er ihnen mit einem gesunden Misstrauen. Ein ganz wesentliches bildnerisches Mittel ist ihm die Verknüpfung von Text und Bild. Dabei ist es nicht etwa so, dass das eine jeweils die Botschaft des anderen stützt – ganz im Gegenteil. Text und Bild durchdringen sich gegenseitig, manchmal auch diametral.
Ein Beispiel: 2008 realisierte Bodo Korsig ein Gemälde, ganz klassisch in Öl auf Leinwand und im Breitwandformat. Auf der rechten Bildhälfte ist ein organisches Gebilde zu sehen mit netzartiger Struktur und rhizomatischen Knoten. Auf der linken Bildhälfte steht auf rotem Grund in Versalien geschrieben: „EVERYTHING IS POSSIBLE“. So. Klare Sache. Einfache Botschaft. Man schaut hin und her, von links nach rechts und wieder zurück, und von Mal zu Mal scheint sich die Botschaft zu verändern. Hinter der zunächst harmlosen Werbewahrheit offenbaren sich langsam aber sicher psychologische und gesellschaftspolitische Untiefen, in denen sich das Versprechen grenzenloser Freiheit und neoliberaler Traumkarrieren mit zwanghafter Selbstverantwortung und bodenlosen Fallhöhen paart. Das Versprechen „EVERYTHING IS POSSIBLE“ scheint also eindeutig codiert zu sein, und ist doch eine durch und durch zwiespältige Angelegenheit.
Auf diese Weise schafft es Bodo Korsig, die scheinbar konsensfähige Ordnung der Dinge immer wieder zu „ver-rücken“. Nicht etwa, weil er selbst besonders verrückt wäre, sondern weil er jene unsichtbaren Grenzen sichtbar macht, an denen das „Normale“ eben „verrückt“ wird und das vermeintlich Vernünftige sich dem Vorwurf des Irrwegs stellen muss. „normal ist nicht normal“ liest man folgerichtig auf einem der im Raum schwebenden Schriftzüge. Stattdessen fordert der Künstler einen „Salto Sprung Des Bewusstseins“ und die „Reflexion Des Gedankens“. Dass uns diese Aussagen zum Nachdenken anregen, ist die eine Sache. Bodo Korsig aber geht noch einen Schritt weiter, indem er seinen Botschaften einen Resonanzraum verleiht. Seine Imperative reden nicht, sie sprechen oder rufen uns an: „enjoy more madness“ brüllt es emphatisch aus der einen Ecke; „Zufall überrasche mich“ aus der anderen. Und mittendrin die Betrachter, die sich den geforderten Saltosprüngen, Reflexionen, Verrücktheiten und Zufällen auf irgendeine Weise stellen müssen.
„Ich will, dass sich eine Form oder ein Slogan dem Betrachter ins Hirn frisst“, sagt Bodo Korsig in einem Fernsehbeitrag. Und das gelingt ihm auf eindrucksvolle Weise. In seiner großen Installation in der Kunsthalle Trier sowieso, aber genauso in seinen Videoarbeiten. Hier arbeitet Korsig nicht mit Text im Bild, sondern er legt eine Tonspur über die laufenden Bilder. Die große Kunst besteht auch hier darin, dass die eine Botschaft die andere nicht etwa nur illustriert, sondern etwas Neues, bisweilen „Verrücktes“ daraus entsteht. Zum Beispiel in dem Video „Der Lindenbaum“, in dem Korsig 2013 das gleichnamige Lied aus Schuberts „Winterreise“ mit der bildnerischen Kraft von Entropie und Ordnung im Flug eines Starenschwarms unterlegt. Ein Jahr vorher entstand das Video „Steindichte“, in dem der gesprochene Text in Verbindung mit den Videoaufnahmen von Hunderten Weberknechten auf engstem Raum fast körperlich spürbar wird: „Das Unsägliche kennt keine Erlösung“, heißt es darin – und von Korsigs Arbeit wird man nur dann erlöst, wenn man Augen und Ohren gleichzeitig verschließt.
Das sollte man als Betrachter natürlich tunlichst vermeiden! Auch dann, wenn man sich diesen durchaus vereinnahmenden Arbeiten am liebsten entziehen möchte. Bodo Korsig ist so. Daran führt kein Weg vorbei. In dem genannten Fernsehbeitrag hat Dietmar Schellin dem Künstler eine „demonstrative Entschlossenheit“ bescheinigt. Das trifft uneingeschränkt zu, vor allem im Hinblick auf die Konsequenz, mit der er seine Arbeiten realisiert. Und diese Qualität ist wiederum unverzichtbar, wenn man sich – wie er – mit großen Fragen und vielen verschiedenen bildnerischen Möglichkeiten auseinandersetzt. Die Gefahr, sich angesichts dessen zu verlieren und nichts richtig zu machen, ist groß. Bodo Korsig macht alles richtig! So gelingt es ihm auf überzeugende Weise, dass das Bewusstsein der Betrachter den einen oder anderen Salto schlägt und sie ein bisschen „verrückter“ aus der Kunsthalle Trier hinausgehen als sie hereingekommen sind.