Zurück zu Texts

Holger Bikholz

Ich habe Bodo Korsig vor elf Jahren bei einer Ausstellung kennengelernt, in der er seine Arbeiten vor Ort entwickelte. Damals hat es mich insbesondere fasziniert, wie er seine Bildzeichen aus Holz mit der Kettensäge ausgeschnitten hat. Die genaue Vorstellung von der Gestalt des Zeichens im Kopf entstand das Werk in einer Art bildhauerischem Prozess. Die schweren Holzplatten wurden mit einem ebenso schweren Gerät bearbeitet und den fertigen Objekten sah man diese besondere Körperlichkeit des Entstehungsprozesses an.

Die Bildzeichen von Bodo Korsig sind in ihrer Reduktion auf die schwarze Form zwar in gewisser Weise grafisch, doch haben sie immer auch einen körperlichen Aspekt. Als eigenständige Objekte treten sie in den Bildern durch die starke Umrisslinie und das Schwarz physisch hervor . Bei den Skulpturen kommt die Stärke der Holzplatten oder die Dicke des Aluminiumgusses hinzu, die aus den Zeichnungen Zeichenkörper macht. Sie erstrecken sich so in den Raum des Betrachters, der sie in Beziehung zu seinem eigenen Körper erfährt. Das wird besonders bei den großen Skulpturen deutlich oder in der Ausdehnung eines Feldes von aus Holz geschnittenen Zeichen. Dabei trennt sich das Objekt von der Funktion des Abbildens und wird selbst zu einem Gegenstand. Geballte Elemente bilden kugelförmige Körper, auch wenn sie sich scheinbar wieder durchlöchert auflösen. Von den Körpern gehen teilweise Arme aus, die wie Gliedmaßen den Raum erobern und in der angedeuteten Bewegung dem Zeichen einen individuellen Charakter geben. Mehrere Elemente gruppieren sich an einem Strang oder bilden eine Gemeinschaft. Auf diese Art wird jedes Zeichen zu einem eigenen Wesen, das dazu verleitet ihm ein Eigenleben zuzusprechen.

Was machen die Zeichen wenn wir nicht hinschauen?

Die Vorstellung, dass beim Aussetzen der Vernunft oder im Schlaf die Dinge ein Eigenleben entwickeln, haben nicht nur Kinder. Goya formuliert es in seinem Blatt „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ oder Hans Christian Andersen erzählt uns eine Geschichte von den Dingen im Kinderzimmer, die nachts, wenn die Kinder schlafen, ihr eigenes Leben unabhängig entfalten. Ein Motiv, dass sich gegenwärtig auch in einer Autowerbung findet, wo die Spielzeuge sich des nachts, während die Familie schläft, aus dem Kinderzimmer aufmachen, um sich im Kofferraum des Autos zu versammeln.

Die Bildzeichen Korsigs habe ein vergleichbares Eigenleben, das sich jedoch – im Gegensatz zu den unheimlichen Belebungen bei Goya und Andersen – nicht bei Aussetzen kritischer Vernunft oder im Schlaf ergibt, sondern bei vollem Bewusstsein. Denn um den Zeichen Korsigs ihr Eigenleben zu gestatten, muss man sie erst von ihrer Verweisfunktion lösen. Wenn man den Zeichen auf diese Weise die Freiheit gibt, sich zu emanzipieren von ihrer Verantwortung, die Wirklichkeit des Lebens zu beschreiben oder zur Kommunikation zu dienen, dann bleiben sie immer noch Form – Form, wie jede andere Erscheinung in der sichtbaren Welt.

Immer wieder wird bei Korsig eine gewisse Mehrdeutigkeit in den Bildzeichen festgestellt. Dass überhaupt das Thema erkannt wird, beruht in der Genauigkeit seiner Bildzeichen, die in Beziehung tritt zu Schriftzeichen und deren fest umrissener Bedeutung. Die Klarheit des Zeichens bei Korsig mag zu der Enttäuschung führen, dass der Inhalt des Bildzeichens nicht die gleiche Deutlichkeit besitzt wie die Form. Doch diese Enttäuschung kann in einem zweiten Schritt zu einer Reflexion darüber anregen, was überhaupt den Zeichenkörper mit seiner Bedeutung verbindet.

Als „Zeichen“ könnten wir die Motive Korsigs bezeichnen, wenn wir annehmen würden, dass sie auf eine Wirklichkeit verweisen, die jenseits des Zeichenkörpers liegt. Angesichts der Bestimmtheit der Korsigschen Zeichen und ihres Charakters, der andeutungsweise abbildhafte Züge trägt, liegt es nahe, der Verführung zu folgen und mit den Bildzeichen bestimmte Bilder und Inhalte aus der eigenen Erfahrung zu koppeln. Doch werden wir uns in der Regel nicht sicher sein können, dass diese Entsprechung auch von anderen Betrachtern so gesehen werden.

Was jedoch einen großen Grad an Bestimmtheit besitzt, ist die Zeichenform an sich. Hier bewegt sich Korsig an der Grenze zum Konkreten, wo das zeichnerische Motiv oder der skulpturale Körper nicht mehr als Verweis auf etwas verstanden, sondern rein in seiner Materialität und in seinen Formprinzipien betrachtet werden. Das Zeichen ist dabei nicht metaphysisch der Platzhalter für etwas anderes, sei es nun ein Gegenstand oder ein Gedanke, sondern es ist Zeichen in seiner individuellen Form und repräsentiert als solche nur sich selbst.

Ganz so weit geht Korsig jedoch nicht. Er genießt es viel zu sehr durch die abbildhaften Momente seiner Zeichen inhaltliche Räume aufzuschließen. Die Formensprache der Zeichen, Bildtitel und Textzeilen in den Bildern verweisen auf ein Bedeutungsfeld: die Naturwissenschaften und in diesem Falle die Neurophysiologie.

Die von Korsig in den hier gezeigten Arbeiten gezielt angespielte Thematik der Hirnforschung und darüber hinaus der Naturwissenschaften als Topos und Bezugspunkt künstlerischer Kreativität steht in einem kunsthistorischen Rahmen, in dem Kunst immer wieder die Nähe zur Naturwissenschaft sucht. Das geschieht nicht nur aus anatomischem und gestalterischem Interesse, sondern verweist auch auf den Anspruch der Kunst, mit der künstlerischen Arbeit an der Erforschung der Welt und ihrer Repräsentation in den Wissenschaften teilzunehmen. In der Kunstgeschichte wird diese Allianz zwischen Bildender Kunst und Naturwissenschaften immer auch zu einer Art Legitimationsstrategie. Die gesellschaftliche Relevanz der Naturwissenschaften und die Möglichkeit ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse nutzungsorientiert anwenden zu können, scheint hier übertragbar zu werden auf den Bereich der Kunst. Bereits in der Renaissance nutzen Künstler wie Leonardo ihre naturwissenschaftlichen Studien zum Beleg der Zugehörigkeit der Bildenden Kunst zu den Freien Künsten.

Im Zentrum einer neurobiologischen Thematik, die sich bezogen auf Korsigs Bildzeichen formulieren lässt, kann man sich die Frage stellen, wie es überhaupt zur Belegung eines Bildzeichens mit Inhalten kommen kann. Wie entsteht die Abstraktion eines Zeichens, das in der Lage ist abbildhaft nicht nur einen Gegenstand, sondern die Idee eines Gegenstandes zu bezeichnen? Das ist eine der grundlegenden Fragen für jeden Künstler: Wie kann man mit Bildern eine Aussage treffen, vielleicht sogar eine Aussage über die Wirklichkeit?

Irgendwie ist es unser Gehirn, dass einem Bild die Bedeutung beimisst. Die Frage nach der Kopplung von visueller Wahrnehmung mit Erfahrungen und Emotionen, nach Prozessen des Erkennens und Einordnens von visuellen Reizen, so wie die Reflexion über ihre Bedeutung ist hier entscheidend nicht nur für die Wissenschaft, sondern insbesondere auch für die Bildende Kunst. Interessiert sich die Wissenschaft für die physiologischen Zusammenhänge, so sucht die Kunst nach den Möglichkeiten symbolischen Ausdrucks.

So ist es nicht verwunderlich, dass Bodo Korsig in seiner künstlerischen Arbeit auf die Neurophysiologie gestoßen ist. Unter diesem Gesichtspunkt öffnet sich für die in der Ausstellung gezeigten Bildzeichen ein Bedeutungsfeld, dass sich nun gerichtet zu erschließen scheint. Die Zeichen lassen sich auf mikroskopische Aufnahmen, anatomische Modelle und Schemata beziehen. Für Fachleute ist jedoch klar, dass die Zeichen Korsigs nicht den naturwissenschaftlichen Symbolen entsprechen. Sie weisen allerdings eine strukturelle Ähnlichkeit zu ihnen auf. Im Bezug auf biologische Darstellungsformen öffnet sich für die Zeichnungen ein Assoziationsraum, der auf Formanalogien basiert.

Die inhaltliche Offenheit und Ambivalenz der Zeichen Korsigs ermöglicht in ihrer Assoziationsfreiheit auf einer weiteren Ebene einen kritischen Umgang mit den Bedingungen der Verbildlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Vorstellungen in der Neurophysiologie. Man muss sich fragen, ob sich mit den Zeichen und Zeichnungen, wie sie in den Naturwissenschaften erstellt und verwendet werden, die Natur der Dinge erfassen und darstellen lässt. Die Naturwissenschaften mit ihren Zeichensystemen versuchen zwar konkrete Sachverhalte darzustellen, doch muss jede dieser Darstellungsarten wiederum als Entfernung von den natürlichen Umständen verstanden werden. Die Darstellung ist nicht das Dargestellte selbst. Jede Darstellung hat ihre eigene Wirklichkeit und so kommt es auch in den Naturwissenschaften immer wieder zu Missverständnissen und Paradigmenwechseln in den jeweils bevorzugten Darstellungsmodalitäten.

Die Repräsentationsaufgabe der Zeichen und die Ambivalenz der Kunst scheinen zwei Systeme zu sein, die in ihrer Art und Weise Bedeutung herzustellen zunächst einmal von sehr unterschiedlicher Natur zu sein scheinen. Wird im Bereich der Wissenschaften nach Zeichen, Zeichnungen und Modellen verlangt, in denen eine möglichst große Anschaulichkeit erreicht wird. So gibt es in der Bildenden Kunst eine Art Unschärferelation zwischen der künstlerischen Gestalt und der Wirklichkeitserfahrung, auf die sie Bezug nimmt.

Die Eigenmacht des Zeichenkörpers jenseits seiner sprachlich umsetzbaren Inhalte ist für mich eines der vorstechenden Merkmale in den Arbeiten Bodo Korsigs. Da kann man noch so viel reden, die Zeichnung wird sich nie in Sprache auflösen und darin liegt ja auch ihre eigentliche Bestimmung, nämlich die Zeichnung zu sein und nicht Sprache. Dementsprechend ist die Kompetenz des Betrachters auch weniger auf der sprachlich inhaltlichen Ebene zu suchen, sondern im Bereich eines visuellen Verständnisses.

Das Besondere an den Zeichen Bodo Korsigs ist, dass sie als künstlerische Formen und Zeichen einen hohen Grad an Konkretheit besitzen. Sie sind in der Regel nicht von Zweifeln geprägt, sondern sind entschieden in ihren Flächenausdehnungen, Umrissen und Linien. Es findet keine Verschmelzung mit dem Grund statt. Weder Farbübergänge noch Bewegungslinien lenken von der eigentlichen Zeichnung ab. Die meisten Formen Korsigs sind autark! Das heißt die Formen konzentrieren sich auf eine innere Mitte und entwickeln keine Dynamik; die den Bildraum sprengt. In der Regel sind sie mittig platziert und beanspruchen viel Freiheit auf der Bildfläche. Selbst in der Reihung bleibt die Autonomie der Formen bestehen.

Es ist die große Stärke und Eigenständigkeit der Zeichen Korsigs, die ihre Betrachter fesselt. Als individuelle künstlerische Formen bleiben diese Zeichen für sich bestehen und eignen sich zugleich als Gegenüber für vielfältige Gedankenspiele. So beantwortet sich im Grunde genommen die Titelfrage dieser Ausstellung „Where can I buy a new brain?“ nicht als utopisches Versprechen im Bereich der hier mehrfach angesprochenen Neurophysiologie, sondern viel konkreter unter Bezug auf das Bildzeichen selbst. Jedes von ihnen trägt in seiner Form eigene Anknüpfungspunkte für Gedanken, die von ihm ausgehen. Damit wird jedes dieser Zeichen zu einem kleinen neuen Gehirn, das sich ihnen hier zur Anprobe anbietet.

Holger Bikholz 2006 Dresden