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die neue horde

Wesentliches über die eigene Zeit auszusagen war und ist eine Herausforderung für
Künstler. Und die Formen der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen und
Tendenzen sind so vielfältig, wie die Möglichkeiten, die die jeweilige Gesellschaft anbietet.
Immer wieder sind es gerade die Künstler, denen es gelingt entscheidende Entwicklungen,
Akzente zu erspüren und in Bilder und Metapher zu transformieren. Dabei handelt es sich
seit dem 20. Jahrhundert um künstlerische Prozesse, die von Freiheit und Individualität
geprägt sind. Diese sind Teil von Gesellschaftsformen, die in der Lage sind, kreative
Persönlichkeiten auf Grund von wirtschaftlicher Prosperität und Frieden hervorzubringen.
Doch Frieden bedeutet nicht friedlich, sondern birgt mitunter eine Ruhe, die Gewalt
produziert.
Bodo Korsig ist ein avantgardistischer Künstler, der den Menschen von seinen
Grenzbereichen her erfahren, erleben und deuten will. Ihn interessiert, wozu der Mensch in
der Lage ist und wie sich Grundbedingungen des Mensch-Seins vor allem in unkontrollierbaren
Grenzsituationen wie der Gewalt und Furcht zeigen. Dabei haben moderne
Synonyme wie Schrecken, Brutalität und Terror die humanistische Umschreibung von
Leiden und Tod längst ersetzt. Mord, Todschlag, Hass gehören nicht mehr nur in den
Trivialbereich der Medien, sondern zu Erfahrungen, mit denen Jeder rechnen muss. Diese
Lebensbedingungen, die weltweit gelten, bringen Künstler wie Bodo Korsig in ihren
Bildern in eine künstlerische Form.
Nach einem Gedicht von Scardanelli entstand 1998 das Buch „die neue horde“ mit zwölf
doppelseitigen Holzschnitten. Daraus entwickelten sich großformatige Holzschnitte auf
Leinwand, die Bodo Korsig in den Jahren 1998 bis 2001 schuf. Der Themenkomplex bildet
einen Kristallisationspunkt im bisherigen Gesamtschaffen des Künstlers. Hier verdichtete
er frühere Ideen zu ausgewählten Zeichen und – besonders im großen Format – zu
Manifestationen seiner bisherigen künstlerischen Entwicklung. Die Zusammenarbeit von
Scardanelli und Korsig kann als Glücksfall bezeichnet werden. Die wortgewaltige Sprache
des Dichters – nicht episch ausgeführt, sondern eingeschmolzen im Gedicht – und die
zurückhaltende Formensprache des Bildhauers und Grafikers, ergänzen sich zu einem
äußerst spannungsvollen Diskurs. Mit der Synästhesie von Text und Bild in der Grafik verwendet
Korsig eine Tradition, die sich in Deutschland bereits in der Gotik (14. Jahrhundert)
und zur Zeit der beiden Weltkriege (1914 – 1945) zu besonders eindrucksvollen Aussagen
steigerte.
Dabei fungiert der Holzschnitt als Medium, das sich für eine kontrastreiche, expressive
Sprache eignet. Die größeren Dimensionen entstanden im Handabrieb sowie im aufwendigen
Druck mit der Straßenwalze. Sie führen in der Bild- und Schriftsprache eine neue
Qualität ein. Vor den über zwei Meter hohen Leinwänden stehend, wird der Betrachter mit
monumentalen Bildern konfrontiert und ganz eingenommen. Die Aussagen von Bild und
Schrift werden somit unausweichlich. Dem entspricht auch die direkte „wir“ Ansprache des
Gedichtes. „wir“ können uns nicht distanzieren oder heraushalten. So ist es nicht mehr
möglich zu behaupten, dass „wir“ von nichts gewußt haben, nichts von den „seuchen“,
nichts von den Tieren, die „wir vernichteten“, nichts von den „gesprengten städten“
(Scardanelli). Vor einigen Monaten war ich mir sicher, dass Korsig mit „die neue horde“ die
neo-nationalsozialistischen Szene in Deutschland meint. Doch das war falsch. Die
Bildzeichen und Wortassziationen sind bewußt allgemein, grundsätzlich gehalten, sodass
sich die Interpretationen nach dem Betracher und seiner jeweiligen Befindlichkeit und
geschichtlichen Situation ändern kann. Korsig meint jede Art von gewaltbereiter Horde,
seien es kriminelle Banden, Freischärler, Terrororganisationen oder das gewaltbereite
Potential in jedem Menschen. Was macht Menschen zu Henkern, was zeichnet Kamikaze-
Terroristen aus, was den „normalen“ Soldaten, der zum Massenmörder wird? Was erwartet
uns in der Zukunft? Und wen erwarten wir? Infiziert vom Grauen, trägt jeder zur Verbreitung
des Schreckens bei.
Korsig geht es nicht um eine Bewertung, sondern um Phänomene und Phantasien. Um
Bilder, die Reaktionen auslösen, um latente Gefühle, assoziationsreiche Momente und
offen gestaltete Situationen. Plakative Aussagen sind dabei durchaus vorgesehen, nicht
aber simple Statements. Bewußt setzt der Künstler Farbe und grafische Formen nur zurückhaltend
als Bedeutungsträger ein. Die Quelle seiner Formen kann der alltägliche
Zusammenhang sein. Beobachtungen auf den Straßen, in Wohnungen, Restaurants etc.
dienen ihm als reicher Fundus an Reflexen, Schatten, Farben, Formen und Kompositionen,
die sich für künstlerische Definitionen eignen und den Betracher zum Sehen und Deuten
provozieren können. Visuelles wird im Holzschnitt nicht beliebig verwandelt, sondern in den
Bereich der kollektiven, wie individuellen Expression transformiert. So geben Korsigs
Arbeiten wie „die neue horde“ starke Impulse, die den Betrachter fesseln, ihm seine unbewußten
Bereiche erschließen und ihn in eine irritierende Freiheit entlassen.

Gabriele Lohberg · Trier, 14. September 2001