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Kreuzungen: Orte, an denen Leben erlosch. Provisorische Mahnmale, die vergehen.

Alles hat seine Zeit. „Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit“, erklärt der Prediger Salomo in der Bibel. „Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit.“ E

Und wenn jemand zur Unzeit stirbt?

Alles braucht seinen Ort. Wohin sollen Eltern mit ihrem Schmerz, wenn ihr Kind tödlich verunglückt ist? Auf dem Friedhof herrschen Ruhe und Ordnung. Friedhofsordnung. Und die bestimmt, wie Grab und Grabstein auszusehen haben. Aber mit dem Verkehrsunfall ist alle Ordnung plötzlich aus den Fugen.

In einer Welt, die alles professionalisiert und regelt, von der Kinderbetreuung über die Krankenpflege bis zur Beerdigung, in der es viele Jahre und noch mehr Gremien braucht, bis ein Mahnmal steht, nageln todtraurige Menschen plötzlich aus ein paar Holzlatten Kreuze zusammen, ritzen Namen ein, stellen selbstgepflückte Blümchen hin, bringen Windräder vorbei. Wer trauert, will etwas tun – für den Toten. Wenn man ihn schon nicht zum Leben erwecken kann, will man ihm wenigstens Liebe bringen, bauen, pflanzen. Ohne Anleitung, ohne Erlaubnis.

Und die Behörden dulden die Anarchie. In der Unfallstatistik liegt Brandenburg weit vorne, auf Platz zwei hinter Mecklenburg. 328 Verkehrstote im letzten Jahr, und der Anteil der jungen Männer ist gewaltig. Die Straßenkreuze sind wie offene Wunden im geregelten Straßenverlauf. Ein plötzlicher Schmerz, der den vorbeirauschenden Autofahrer sticht, ein Moment der Angst, des Mitgefühls. Schon ist man wieder weg.

Bodo Korsig hat das Flüchtige festgehalten. Seit Februar Stipendiat im brandenburgischen Wiepersdorf, stachen dem Künstler die Kreuze beim Fahren immer wieder ins Auge. Kein Zufall vielleicht: Auf eigentümliche Art sind die abstrakten Holzschnitte, für die der 42-Jährige bekannt ist, den Kreuzen verwandt; auch Korsig hat eine traditionelle Form genommen und radikal verändert – mit einer Straßenwalze druckt er seine Bilder im monumentalen Format. Gerade mit Grenzsituationen, mit Selbstmord, Stress, Gewalt hat sich der sächsische Künstler, der seit 1995 in New York und Trier lebt, immer wieder beschäftigt. Was wäre, wenn – oder wenn nicht?

Die Kreuze haben Korsig schockiert. Und fasziniert: das Leuchten der bunten Blumen vor sattem Grün. Die Schönheit an diesem schrecklichen, blutigen Ort. So fing er zu fotografieren an. 40 Bilder präsentierte er jetzt in einer Ausstellung in Wiepersdorf, zog die Bilder so auf, dass sie etwas Dreidimensionales bekamen. Er zwang die Besucher in einem fast sakralen Raum, ganz nah an die kleinen Fotos heranzugehen – und war selber erschrocken vom Resultat: Dass so viele weinen würden, damit hatte er nicht gerechnet. Die Hilflosigkeit und Unmittelbarkeit, mit der sich der Schmerz im selbstgebastelten Memento Mori manifestiert, weckt offenbar Erinnerungen an eigene Verluste.

Die Irritation, die von diesen kleinen Gedenkstätten ausgeht, liegt auch in ihrer Widersprüchlichkeit. Der Ort, an dem die Kreuze stehen, ist der Ort, an dem ein Mensch gestorben ist, an dem er aber auch zuletzt lebendig war. Das Kreuz ist Symbol des Leidens Christi und seiner Auferstehung. „Gegen alle Straßenverkehrsgesetzlichkeiten“ errichtet, meint Ludwig Schumann vom Magdeburger Kunstverein, ist das Kreuz im eher unchristlichen Osten so anachronistisch wie anarchistisch. Ein intimer Ausdruck der Trauer an einem öffentlichen Fleck, ein leises Zeichen an einer lauten Straße. Ein Denkmal zur Erinnerung an den Toten und Mahnmal an die Lebenden: vorsichtiger zu fahren.

Die Kreuze sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Irgendwann verwittern sie, fallen um, verblühen die Blumen, ohne dass sie erneuert werden. Auch Orte haben ihre Zeit. In den Fotos überdauern sie.

www.korsig.com. Die Bilder sind in Wiepersdorf zu sehen (nach Voranmeldung, Tel. 033746/6990). Unter www.strassenkreuze.de findet sich eine Fülle von Texten zum Thema sowie Fotos anderer Künstler.