Eröffnungsrede am 30. Mai 2004 von Peter Herbstreuth
Sie werden sich vielleicht fragen, weshalb eine so klare Ausstellung überhaupt einer Einführung bedarf. Alles liegt sichtbar zu Tage. Man versteht die Bilder ohne Kommentar. Deshalb haben die Fotos auch keine Titel. Sie scheinen keine Erklärung zu brauchen.
Was soll man also sagen, wenn ein Bild angeblich mehr als tausend Worte sagt, fragte ich den Künstler Bodo Korsig, als er mich zu dieser kleinen Ansprache eingeladen hat? Und was soll man sagen, wenn die meisten Autofahrer solche Stellen kennen, an die der Künstler nun hier erinnert? Jemand, der auf der Straße einen Angehörigen verloren hat, sieht diese Bilder anders als jemand, der sie nach formal-ästhetischen Kriterien als Kunst betrachtet. Zu beiden – den Leidtragenden und den Kunstinteressierten – sprechen die Bilder direkt. Deshalb spreche ich zunächst weniger von den Bildern, die ja kaum der Erklärung bedürfen, sondern von der Ausstellung.
Die Ausstellung zeigt zwei Arten von Bildern. Erstens dreissig Fotografien von Unfallorten, zweitens zwei Holzschnitte, die sie kommentieren.
In jeder Sekunde endet ein Leben.
In jeder Sekunde beginnt ein Leben.
Die Ausstellung ist also nicht nur der Vergänglichkeit und dem Tod gewidmet, sondern auch dem Lebendigen.
Vor einiger Zeit hatte der Künstler einen Werkzyklus erstellt, der den Obertitel trug Wo kann ich mir ein neues Hirn kaufen? Er fragte nicht ‘Kann ich mir ein Hirn kaufen‘, sondern: ‘Wo‘? In den Holzdrucken konnte man in grosser Schrift lesen
Löschen Sie Ihre Vergangenheit (Erase your Past)
Wenn man alles bedenkt (all things considered)
Ich kann ohne ( I do without)
Zukunft ist ein Mysterium (Future is a mystery)
Gegenwart und Vergangenheit (Present an Past)
Schleier des Vergessens
Wer bin ich, wenn ich schlafe? (Who am I when I am sleeping?)
Daneben sah man Chiffren: Zeichen zwischen Abbildung und Schrift. Sie hatten Ähnlichkeit mit Zellen und Synapsen und ähnelteln medizinischen Modellen. Doch es gibt kein Vorbild für diese Chiffren. Der Künstler hat sie alle erfunden. Aber sie sind so erfunden, dass sie den Anschein wecken, als würden sie Mikro-Organismen in einem Körper wiedergeben. Sie erscheinen als Formen, die man nur aus mikroskopischen Aufnahmen kennen kann, also von anderen Bildern, nicht aus eigener Anschauung der Wirklichkeit an Ort und Stelle.
Die Titel, die ich gerade aufgezählt habe, benannten Begriffe, die nur dann Sinn machen, wenn man sie mit etwas Konkretem in Beziehung setzt. Vergangenheit und Gegenwart im Allgemeinen kann man nicht sehen; sondern nur eine bestimmte Vergangenheit oder eine bestimmte Gegenwart an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Der Künstler war in diesem Zyklus an Konkretem nicht interessiert. Er interessierte sich dafür, dass der Mensch solche Überlegungen überhaupt hervorbringt – die Gegenwart von der Vergangenheit und diese von der Zukunft unterscheidet. Doch wer sie anschaut, entwickelt Empfindungen. Erinnerung ist affektiv. Sie ist mit Gefühlen besetzt.
Die Fotografien in DIESER Ausstellung haben mit Erinnerung zu tun. Sie zeigen keine Gräber, sondern Ehrengräber. Die sterblichen Überreste, Asche oder Gebeine ruhen anderswo. Das Ehrengrab ist also keine Gedenkstätte, sondern ein Denkmal. Die Gräber markieren einen Tatort. Hier ist es geschehen. Hier wurde das Leben zur Unzeit beendet. Die Leidtragenden erinnern nicht an die Täter, aber die Zeichen mahnen sie. Die Leidtragenden klagen auch nicht an. Sie erinnern an die Opfer. Man erfährt auch nicht die Geschichte des Todes. Manche der Opfer fuhren gegen einen Baum. Willentlich oder unwillentlich, weiss man nicht. Manche fuhren gegen ein anderes Auto. Manche fuhren zu schnell, zu unvorsichtig.
Würden diese Ehrengräber an die Täter erinnern, wäre der Name des Lebenden stigmatisiert. Offenbar liegen darin keine Absichten bei den Leidtragenden. Das Memorial gehört ganz der Person, deren Leben endete.
Die Denkmale wurden spontan an Ort und Stelle auf fremdem Besitz errichtet. Alle Gräber am Wegesrand sind auch illegale Platzbesetzungen. Doch werden die Denkmale vor Übergriffen geschützt, weil der Gedanke an den Tod die Abräumung von Kreuz, Stein und Blumen verbietet. Eine Schamgrenze schützt die Gräber und die Verwaltung duldet die kleinen Denkmale am Strassenrand – wie auch die Bauern. Angesichts des Todes sind diese Mahnmale als Orte des Gedächtnisses rechtsfreie Räume. Sie stehen über dem weltlichten Gesetz und können sich integer und unangetastet behaupten.
Woran erinnern sie? Gedächtnisorte haben eine dreifache Bedeutung: eine materielle, eine symbolische und eine funktionale. Hier sind sie aus Blumen und Holzkreuz – Materialien, die in wenigen Wochen – so wie Blumen – oder Jahren – so wie Holzkreuze verdorben sein werden. Damit unterscheiden sich diese Gedächtnisorte von Gräbern der Verstorbenen, die mit ihren Steinen, genauen Namensangaben und Lebensdaten auf lange Dauer eingerichtet sind. Die Tatsache, das auf den Kreuzen entlang der Straße oft nur die Vornamen oder das Todesdatum genannt ist, lässt diese Orte als private Manifestation erscheinen. Man sieht Zeichen der Trauer durch religiöse Symbole. Doch ihre Lage neben der Straße macht sie zu öffentlichen Orten des Gedenkens. Mehr noch: sie mahnen, in dem sie unverkennbar an den unzeitgemässen Tod erinnern.
Man muss also zwischen persönlicher Erinnerung (der Leidtragenden) und ihrer Mahnung im öffentlichen Raum unterscheiden. Die Ehrengräber sind private Aktionen – in der Öffentlichkeit – und insofern – ein Politikum. Und sie sind es deshalb um so mehr, weil in vielen Fotos sehr deutlich die Fürsorge über einen längeren Zeitraum sichtbar dokumentiert ist. Wenn sich manche Künstler heute also fragen, wie ihre Kunst eine gesellschaftliche und politische Dimension bekommen könnte, und sie würden diese Ausstellung als Modell nehmen, dann sähe man – und nun im Kunstjargon: eine Intervention im öffentllichen Raum mit appellativem Charakter und politischer Dimension. Denn man sieht ja nicht nur die Orte, sondern auch die Fürsorge.
Nur wenige der Anwesenden können sich an einen der Unfalltode erinnern. Aber alle können daran denken, was man davon wissen kann. Man hat keine primären Erfahrungen davon, sondern sekundäre – durch Lesen, durch Erzählungen, durch Bilder, durch die Anschauung der Orte – oder eben durch diese Ausstellung. Denn auch diese Ausstellung ist ein Gedächtnisort: sie erinnert an die Geschichte der Straße.
Aber Gedächtnis und Geschichte sind Gegensätze. Das Gedächtnis, so sieht es der Historker Pierre Nora, ist das Leben. Es wird von lebendigen Gruppen getragen und entwickelt sich deshalb ständig, ist dem Hin und Her von Erinnern und Vergessen unterworfen, ist für alle möglichen Manipulationen und Deformationen anfällig, schläft manchmal, um dann plötzlich wieder aufzuleben. Die Geschichte hingegen ist nur die Rekonstruktion dessen, was nicht mehr ist. Das Gedächtnis ist aktuell, die Geschichte eine Repräsentation. Das Gedächtnis rückt die Erinnerung in Sakrale.
Aber an wen geht der Appell? Womit verbindet er sich?
Das ganz und gar ungewöhnliche dieser Ausstellung besteht darin, dass die Fotos der Ehrengräber schön sind. Man schaut gerne darauf. Sie schrecken nicht ab. Sie ziehen den Blick an. Die Fürsorge der Leidtragenden – also ihre Erinnerung – hält sie schön. Warum ist das so? Warum gestalten die Leidtragenden diese Orte, die mit Blech und Blut besudelt waren, wie einen kleinen Garten? Offensichtlich geht es um das Gegenteil. In der Erinnerung an die geliebten Personen geht es um das Vergessen der Hässlichkeit des Todes. Die Ehrenmale sind Zeichen einer Gegenmaßnahme. Sie richten sich an die Lebenden mit den Mitteln schöner Gestaltung. Hier nicht noch mal!
Und es ist dieser Appell, den Bodo Korsig mit dieser Ausstellung weiterträgt.