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Plural im Singular. Die Inszenierung des Disparaten

Anmerkungen zu einem Produktionsaspekt

Von Peter Herbstreuth

Bodo Korsig gehört zu den Künstlern, die das naive Vertrauen in die Bilder verloren haben und aus dieser Ernüchterung ihre Konsequenzen entwickeln. Seine Gebilde sollen namenlos Vieles und auch sich selbst bedeuten. Diese paradoxe Verwicklung verlangt eine Verschiebung in den Prioritäten der Wahrnehmung.

Einer, keiner, hunderttausend. Die trügerische Formel von Marcel Duchamp Der Betrachter macht das Werk hat das Publikum mit der Lizenz zum Urteil ausgestattet und jedermann in einen Autor verwandelt. Doch ist die zugeschriebene Autorschaft strittig geworden, seit sie sich als Lizenz zu tausendfacher Beliebigkeit herausgestellt hat. Die Duchamp’sche Formel ist an die surrealistische Technik freier Assoziationen und an ein Pathos der Freiheit ebenso geknüpft wie an die gewitzten Übertreibungen von Dada. Wenn der Alltag selbst phantastisch und dies durch objet trouvé und Montage bezeugt werden kann, dann haben sich auch die Grenzen zwischen Kunst einerseits und Nicht-Kunst, Existenz, Dasein, Leben andererseits provokant verschoben. Doch ist nicht jede tagträumerische Phantasie der Betrachter vor dem Bild mit der formalästhetischen Phantasie der Künstler gleichzusetzen, gar durch Autorschaft beliebig zu ersetzen. Gleichwohl laden Korsigs Zeichnungen Drucke, Enkaustik-Arbeiten und Wandgebilde schon beim ersten Blick zum freien Phantasieren ein und die Interpreten folgen ihren Assoziationen wie einem Bildregen aus heiterem Himmel. Da es sich bei Korsigs Werken um imaginative Projektionen handelt, sucht man die Bedeutungskonstruktion im Rückgriff auf die Bewusstseinsgeschichte des Betrachters zu erhellen. Dabei wird übersehen, dass es die Werke sind, die etwas tun, etwas suggerieren, etwas darstellen, mit dem nicht umstandslos umgesprungen werden kann. Der Betrachter ist zunächst ein Empfänger, kein Autor. Korsigs Werke erzeugen durch den Anspielungsreichtum suggestive Formen und leiten zunächst Effekte widersprüchlicher Empfindungen in die Wege: „kalt / warm, einfühlsam / brutal.“[1] Diese Wirkungen verdanken sich gezielte Produktion. Denn Korsig setzt die meist dunklen Farben als Energieträger zur emotionalen Konditionierung ein und stellt das Zeichenprogramm auf Mehrdeutigkeit.

Zwiespältige visuelle Kommunikation. Er bearbeitet seine Vorbilder aus der Mikro-Bilologie (Synapsen, Zellen) auf umsichtige Weise. Seine Reduktion auf elementare Zeichen suggeriert Ähnlichkeiten mit Bekanntem und forciert den Eindruck eines Déjà-vu. Alles ist auf Wiedererkennen und Identifikation eingestellt. Dieser Eindruck erschließt sich im Weiteren aber als Irrtum. Denn davor war nie gewesen. Doch liegt in diesem Irrtum das stille Kapital der Werke. Es lässt den Betrachter zwischen Kenne-ich-schon und Was-ist-das? hin und her schwanken – und motiviert die wechselseitige Dynamisierung des Wahrnehmungsvorgangs. Daher ist es nicht das Sichtbare allein, sondern der Zwiespalt des Visuellen, aus dem sich das Bild als Gegenüber erzeugt. Und dieser Zwiespalt zwischen Sichtbarkeit und Vorstellung wird unübersehbar, weil der Künstler die Bildstiftung in Zweifel zieht und gerade deshalb als prekäre Existenz glaubwürdig erscheinen lässt. Daher lautet Bodo Korsigs Botschaft: nichts ist zweifelhafter als ein Bild. Was bei seinen Werkblöcken also zu untersuchen wäre, läge in der Zwiespältigkeit der visuellen Kommunikation. Sie unterscheidet sich von Bildern der Werbung und figurativer Malerei der Pop-Traditionen. Diesem Zweispalt gehe ich nach.

Kreativ / regressiv. Immanuel Kant hatte zwischen reflektierender und bestimmender Urteilskraft unterschieden. Er sah die besondere Leistung der reflektierenden Urteilskraft darin, dass sie zunächst nur etwas gewahr wird – ein Besonderes, das sich der Identifikation entzieht. Die Bestimmung – das Urteil – bricht dann die Reflektion ab. Daraus erhellt sich die temporale Struktur der Betrachtung. Denn die reflektierende Urteilskraft ist der bestimmenden vorgeordnet. Mit dieser Unterscheidung wird die trügerische Deckungsgleichheit zwischen Sehen und Benennen, ästhetischer Erfahrung und rationaler Analyse vermieden – und jedes Urteil relativ. Die Bilder machen sich nur plural lesbar und durchkreuzen ihre eigenen Bedeutungssetzungen. Ästhetische Qualität bemisst sich demnach in der Antwort auf die Frage, ob sich die Gebilde rational erfassen und durch einen Begriff begrenzen lassen oder nicht – vulgo: eingängig oder sperrig, benennbar oder unbenennbar, verständlich oder unverständlich? Die kantische Differenz  lässt sich mit Sigmund Freuds Unterscheidung von kreativer und regressiver Phantasiebildung erweitern. Denn diese Differenz verknüpft sich einerseits mit einer Art schwebender Aufmerksamkeit, die tendenziell auf Unbekanntes peilt (kreativ), und sie verknüpft sich andererseits mit einer diffusen Sehnsucht nach dem Ursprung, die tendenziell dem Hang nachgibt, im Bekannten und Gewohnten sich seiner selbst zu vergewissern (regressiv) – Odysseus oder Narziss. Bodo Korsig legt das Gewicht seiner Gestaltung auf den frei schwebenden Flug reflektierender Aufmerksamkeit. Aufklärungsflüge sind ihm, dem lyrischen Profi, näher als Selbstbespiegelungen. Doch irgendwie neigen Interpreten zu Regressionen.

Ortsbesichtigung. Das lässt sich ohne Umschweife an den Wandobjekten überprüfen. Sie erscheinen als filigranes Geflecht in schwärzlicher Farbe rahmenlos an der weißen Wand, sind fast symmetrisch – und dieses Fast liegt bereits der erste Haken verborgen, der zur Dynamisierung beiträgt. Die Wandobjekte sind in sich verzweigt, bilden in ihrem Innern Zapfen, Knoten, Überschneidungen und schließen sich nach außen ab. Es gibt weder lose Enden noch Anschnitte. Sie suggerieren eine eigene Welt wie Klecks-Tafeln eines Rorschach-Tests, aus denen plötzlich Figuren springen: Läufer, Gesichter, Wurzelgeflechte – Ergebnisse des gelenkten Zufalls der Gestaltung. Sie lösen Assoziationsverkettungen aus, die sich mal mehr, mal weniger, mal überhaupt nicht im Werk verankern – Tagtraumphantasien. Die Wandobjekte werfen durch ihre Muster Schatten, gewinnen Raum und verstärken ihre vage Mehrdeutigkeit auch durch Titel wie Metamorphosis, Erase your Past oder Beauty under Construction. Da sich die Wahrnehmungsmodi weniger an Werterkenntnis als an Lust orientieren, stellt sich die Frage, was die Lust motiviert.

Ars Poetica. In der Dichtung, so meinte Ezra Pound, würde drei Kräfte wirken: Phaenopoeia (Bild), Melopoeia (Klang) und Logopoeia (Bedeutungsproduktion). Überträgt man das Modell auf Korsigs Werke, regiert das Wahrnehmungsgebiet ein Klangraum aus Moll gestimmten Farben, der plötzlich in einem Bild aufgeht.  „Wir kamen aus dem Unabwendbaren / und fielen in das Land“, schrieb Korisg in eines seiner großen Wandgemälde,  „Wir schrieen in die Stille“, zitiert er den Dichter Scardanelli,[2] „Nachts beschienen von einem Eismond.“  Im Echoraum lyrischer Abstraktion ist Korsig eine lakonische Stimme. Sie vermeidet emotionale Stürme und entwirft klangstarke Bilder in einem Leporello düsterer Haikus. Diese Stimme klingt auch aus den Wandobjekten. Die Betonung auf das Sicht- und Spürbare, das Sensorium, den Körper, die zweifelhafte Natur bei gleichzeitiger Destabilisierung der Bestimmungskraft durch Mehrdeutigkeiten entspricht den Ideen der smarten Expressiven von heute. Sie wollen plural im Singular sein, um von Existenz, Gegenwart, Leben im Labor Erde zu sprechen.

Ornament. Mehrdeutigkeiten sind in der Sphäre der Kunst ein Strategem, um die Werke offen und anziehend für Zuschreibungen und Aneignungen zu halten. Die eindeutige Lesbarkeit der Zeichen (Logos) löst sich in der Polyvalenz auf. Daraus lässt sich eine Analogie erstellen. Wie im Ornament die Zeichen ihre Bedeutung in der unendlichen Wiederholung verlieren, so gewinnen in Korsigs Wandobjekten die Zuschreibungen der Interpreten den Rang eines Ornaments möglicher, keineswegs notwendiger Bedeutungen. Denn in den Bedeutungen liegt die Anziehungskraft der Bilder und Gebilde nicht; sie liegt in  der Lust erzeugenden Kraft, die aus vagen Bedeutungen und suggestiven Zeichnen eine Atmosphäre des faszinierend Unentschiedenen schafft; es ist die Atmosphäre eines ironischen Melancholikers und reiht sich in die Tradition des abstrakten Expressionismus lyrischer Prägung.


[1] Faye Hirsch: Du verwirrst mich. Goliath Verlag, Frankfurt aM, 2001. Viele Autoren betonen die Mehrdeutigkeit von Korsigs Werken; so auch:,Christoph Kellendonk / Gael Mallet: Where can I buy a new brain? Manuskript; Archiv Bodo Korsig. Faye Hirsch: Life of Forms. In: Bodo Korsig: Fate – Encaustic Paintings. Goliath Verlag, Frankfurt aM, 1999.  Robert Saltonstall Mattison: Remembrances. In: ebd.
[2] Scardanelli war der Name, mit dem Friedrich Hölderlin in späten Jahren seine Briefe und Gedichte unterschrieb. Der von Bodo Korsig zitierte Scardanelli ist mit Scardanelli-Hölderlin nicht identisch; er wurde 1964 geboren und lebt in Berlin. Korsig hat mit ihm in verschiedenen Projekten zusammengearbeitet. Letzte Veröffentlichungen: Hautabziehen. The Alien of Hölderlin. Cyanpress, 1996. Tod versuche mich. Cyanpress, 1999